Liebste

Lieb­ste, es ist voll­bracht — Du bist pensioniert

Triumphaler Partyanlass?

Für die Mei­sten ja ein tri­um­pha­ler Par­ty­an­lass, will bei mir ob die­sem denk­wür­di­gen Brauch die Fest­lau­ne nicht so rich­tig auf­kom­men. Da plagt sich der “auf­rech­te” Homo Sapi­ens der Neu­zeit zur Erhal­tung sei­nes “Wohl­stan­des” gegen­sei­tig und gegen­ein­an­der durch ein offen­sicht­lich erdrücken­des Arbeits­le­ben, wovon er als­bald “erlöst” wer­den muss. Als Berufs­tä­ti­ger zuneh­mend aus­ge­laugt die Pen­sio­nie­rung her­bei­seh­nend, droht dem Nicht­mehr­be­rufs­tä­ti­gen die anfäng­li­che Eupho­rie bald ein­mal in boden­lo­se Lee­re zu ver­sin­ken. Das anstei­gen­de Sui­zid­ri­si­ko nach der Pen­sio­nie­rung spricht da augen­schein­lich für sich.

Goldener Käfig

Etli­che Pen­sio­nier­te füh­len sich ziem­lich arbeits­los im gol­de­nen Käfig des Ruhe­stan­des und wür­den dar­um ger­ne wei­ter arbei­ten. Sogar für einen gerin­ge­ren Lohn wür­den sie es tun, weil ihnen das Gefühl, gebraucht zu wer­den, wich­ti­ger ist. Lei­der wird ihnen dies aber nur in den aller­sel­ten­sten Fäl­len mög­lich gemacht. Im Gegen­teil, schon Über­fünf­zig­jäh­ri­ge bekom­men heu­te kaum noch eine Stel­le, wer­den arbeits­los nach 2 Jah­ren aus­ge­steu­ert und aus der Arbeits­lo­sen­sta­ti­stik ent­fernt. Und so beset­zen dann Sinn­ent­lee­rung und Ein­sam­keit regel­mäs­sig Spit­zen­plät­ze im Sor­gen­ba­ro­me­ter der immer fit­te­ren Rent­ner. Sinn­lo­se, ein­sa­me Fitness?

Auf sich selbst zurückgeworfen

Bes­ser dran ist da, wer sich z.B. gross­el­ter­lich nütz­lich machen kann oder eine ande­re sinn­vol­le Auf­ga­be fasst. Anson­sten ver­bleibt dem Pen­sio­ni­sten viel unstruk­tu­rier­te Zeit tot­zu­schla­gen, will er nicht gänz­lich auf sich selbst zurück­ge­wor­fen sein. Tot­schlag-Ange­bo­te gibt es reich­lich, z.B. die Anschaf­fung eines Haus­tie­res; Orga­ni­sier­te Car­fahr­ten ins Nie­mands­land mit Brat­pfan­nen-Son­der­an­ge­bot; Rent­ner­ver­bil­lig­te ÖV-Abon­ne­ments zur rum­fah­re­ri­schen Zer­streu­ung schwe­rer Gedan­ken etc. Und soll­te zuletzt der “auf­rech­te” Homo Sapi­ens nach dem Ver­lust sei­nes Arbeits­le­bens auch noch sein Heim ver­lie­ren, kann er — in ein Heim.

Von ganzem Herzen

Nicht, dass ich Dir Dei­ne Pen­sio­nie­rung nicht gön­nen wür­de, Lieb­ste, das weisst Du. ICH GÖNNE SIE DIR VON GANZEM HERZEN und ich freue mich, wenn die Last von Public Manage­ment und sozi­al­ro­ma­ti­schem Team­dik­tat bis zur Selbst­auf­ga­be von dei­nen Schul­tern fällt und wie­der mehr Schnauf ist für Dich. Nimm Dir also bit­te alle Zeit die Du brauchst, schlaf solan­ge Du willst, hol viel Luft, hän­ge rum, zieh Dir sämt­li­che nach­mit­täg­li­chen TV-Seri­en rein, tele­fo­nie­re n. Lust u. Lau­ne, hän­ge mit Freun­din­nen (Beto­nung auf “Innen”) ab und check die neu­sten Ange­bo­te von HSE24 mal ganz ohne Scham. Das Mot­to “Nur kein Stress” wäre also mein veri­ta­bler Vor­schlag zum Start ins Rentnertum.

Französischer Fünfgänger

Um bei Dir mit einer (sicher­lich hoch­ver­dien­ten) tri­um­pha­len Par­ty zur Pen­sio­nie­rung punk­ten zu kön­nen, sind mei­ne grund­sätz­li­chen Zwei­fel lei­der zu gross. Aber lie­bend ger­ne wür­de ich mit Dir auf Dei­nen neu­en Lebens­ab­schnitt anstos­sen. Mei­ne boden­stän­di­ge Affi­ni­tät für Älp­ler-Makro­nen zurück­stel­lend, wür­de ich mich sogar zu einem exklu­si­ven fran­zö­si­schen Fünf­gän­ger mit gros­sen Tel­lern, viel Besteck von aus­sen nach innen, schnee­weis­sem Tuch, schö­nem Wein und vor­züg­li­chem Ser­vice durchringen…selbstverständlich in stil­vol­lem Ambi­en­te. Dazu bist Du ganz herz­lich eingeladen.

Lieb­ste, gemein­sam wer­den wir den nach­denk­wür­di­gen Brauch der Pen­si­onirrung irgend­wie auf die Schie­ne krie­gen. Und schlimm­sten­falls, um nicht zu sagen besten­falls, könn­test Du ja jeder­zeit wie­der — arbei­ten gehen.

Ich lie­be Dich

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Wachs­tums­wahn? Häss­li­che Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­rung? Rah­men­hand­lung?

Inter­viev mit Lud­wig Has­ler, Phi­lo­soph und Publi­zist, in: Der Bund

Quellen

Sui­zid­ri­si­ko

7 thoughts on “Liebste

  1. Chrisostomos

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    Lie­be Mar­cel, du hesch jo so rächt und du hesch jo so unrächt mit dim wun­der-wun­der­schö­ne Lie­bes­brief an dini Liebsch­ti mit däm Pen­sio­nie­rigs­the­ma — das jo eigent­lich d Unab­än­der­lich­keit vom Alte­re und vom Tod mitbehandlet!
    Doder­zue isch logi­scher­wis scho sit ewi­ge Zite vil gseit worde und es wird, wie dis Bisch­pil jo au grad bewist, vil gseit. Aller­dings: nie­mer cha würklich öppis nöis sage, e Lösig usser­halb vo unse­re oft sich säl­ber sozi­al­ro­man­tisch kaschie­ren­de Leisch­tigsgs­ell­schaft nenne.
    Oh! wär ich doch nur e geisch­ti­ge Dän­di, wo sich ele­gant und sicher gege das latänt bis offen faschi­sto­idi Pri­mat von­e­re omni­pre­sänt erzwun­ge­ne Nütz­lich­keit vo allem und vo jedem stel­le chönnti!
    Sin mer denn uf ewig wachstumswahnsinnig?
    Übri­gens: “es ist voll­bracht” seit bezeich­nen­der­wis lut de Evan­ge­lie Chrisch­tus am Chrütz bevor er änd­gül­tig der Geischt ufgit.

  2. ____
    Es gibt so unend­lich viel Bedarf an “sinn­vol­len Auf­ga­ben” im sozia­len und bür­gerschft­li­chen Enga­ge­ment, dass ich ein­fach nicht ver­ste­he, wie­so die Rent­ner an einer “Lee­re” kranken!
    Klar, es ist ein Umstel­lung und man muss ein biss­chen suchen und aktiv wer­den — aber gera­de in heu­ti­gen Netz­zei­ten ist es ein­fach gewor­den, sich eine frei­wil­li­ge Tätig­keit quer durch vie­ler­leit Ange­bo­te und The­men auszusuchen! 

    Es ist ja heu­te schon so, dass die gro­ße Mehr­heit der Ehren­äm­ter von Senio­ren aus­ge­übt wer­den — was hält denn die ande­ren davon ab?

    Man­che kön­nen nicht gut mit neu­en Men­schen, okay. Es gibt aber auch dafür vie­le Gele­gen­hei­ten, sich zu enga­gie­ren, etwa im Tier‑, Umwelt- und Naturschutz. 

    Auch anson­sten ist die Palet­te rie­sig: Alten und Kran­ken das Leben erleich­tern, Jugend­li­chen hel­fen, Opa/Oma erset­zen, in sozia­len Ein­rich­tun­gen mit­ar­bei­ten, Bür­ger­initia­ti­ven unter­stüt­zen und vie­les mehr.

    “Gebraucht wer­den” ist gar nicht vor­nehm­lich ein The­ma der bezahl­ten Erwerbs­ar­beit — viel drin­gen­der wer­den Men­schen dort gebraucht, wo sich nichts “ren­tiert” und kein “Markt” exi­stiert, in den sich Inve­sti­tio­nen kom­mer­zi­ell loh­nen würden.

    Ein­fach nur gemüt­lich rum­hän­gen ist gewiss für ein paar Wochen oder Mona­te toll — aber dann?

    • ____
      Besten Dank für Ihren enga­gier­ten Kom­men­tar zur Pensionierung.
      Natür­lich haben Sie recht: Es gibt unend­lich viel Bedarf an Enga­ge­ment; man muss sich halt umstel­len, ein biss­chen suchen und aktiv wer­den; die gro­ße Mehr­heit der Ehren­äm­ter wer­den von Senio­ren aus­ge­übt; es gibt vie­le Gele­gen­hei­ten sich zu enga­gie­ren; die Palet­te ist rie­sig und “Gebraucht wer­den” ist nicht vor­nehm­lich ein The­ma der bezahl­ten Erwerbsarbeit.
      Aber war­um denn…
      …soll die Lee­re nach der Pen­sio­nie­rung krank sein (oder ist sie gar gesund)?
      …soll man nicht ein­fach wei­ter­ar­bei­ten dür­fen wie bisher?
      …soll man “sich umstel­len, ein biss­chen suchen und aktiv wer­den” müs­sen, um gebraucht zu wer­den — nach­dem man nicht mehr gebraucht wird?

  3. Monika Müller

    ____
    “wenn die Last von Public Manage­ment und sozi­al­ro­ma­ti­schem Team­dik­tat bis zur Selbstaufgabe”
    ele­gant ver­schrift­licht, so dass die Dor­nen in den von aus­sen gese­he­nen zar­ten Rosen­blät­ter spür­bar sind
    Wenn ich das lies: Ich freu mich auf die Pensionierung ;)

  4. ____
    Bra­vo lie­ber Mar­cel: ganz ein­fach leicht­füs­sig geschrie­be­ne Spit­ze zum all­ge­mei­nen Nach­den­ken und mit einer leich­ten Pri­se Zwei­fel an vie­lem und ein­zel­nem, wo jener beson­de­re Hauch phi­lo­so­phi­scher Rat­lo­sig­keit zu Wehen ver­mag, der wie­der­um jener erlaub­ten und leicht ver­dau­li­chen oder auch gnä­dig zu über­le­sen­den Schwe­ster der Phi­lo­so­phie, der Melan­cho­lie, den nöti­gen Dunst­kreis einräumt!


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