Vom Jagen und Jäten

Aus der Serie «Sprachperlen»

Nr59 XXL

Nr59 XXL

(stu) Ein Latein­er des Frühchris­ten­tums hätte sofort erkan­nt, dass es sich beim sol­id sauber gear­beit­eten und matt schwarz gestrich­enen Objekt um ein Kreuz han­delt, das etwas merk­würdig anmu­tend einen um ein Vielfach­es verdick­ten Kreuzstän­der aufweist, neben dem die Kreuzarme nur mehr wie lächer­liche Stum­melchen wirken. Der Frühchrist wäre dann näher getreten um die Inschrift entz­if­fern zu kön­nen. XXL hätte er dann gele­sen und scharf­sin­nig gefol­gert, dass hier ein Gemein­schafts­grab für 30 Per­so­n­en markiert war. Wir, die wir ohne­hin immer alles bess­er wis­sen, als unsere Ahnen, wis­sen natür­lich, dass XXL nicht die römis­che Zahl 30 meint, son­dern dass IGGS IGGS LARTSCH die Beze­ich­nung für Über­grösse ist, für saumäs­sig gross und irre dick.

Dieses Zauber­wort unser­er materiell und hedo­nis­tisch aus­gerichteten Welt, die immer alles noch gröss­er, noch stärk­er, noch lauter braucht, um sich über­haupt noch definieren und spüren zu kön­nen, ist jedoch nicht immer pos­i­tiv kon­notiert. Wenn es um die Leibesfülle geht, die den Kör­per­mass-Index, den Body­mass-Index BMI in die Höhe und über 25 hin­aus schiessen lässt, ist XXL ein Verdikt, das den Begriff der guten alten Sünde wieder hochleben lässt. Ein XXL Kör­p­er braucht nicht mit einem Zeichen als mega uncool, als schändlich und natür­lich als sel­ber schuld aus­geze­ich­net zu wer­den. Alle sehen die Dick­en und der einzige Trost für diese auch bere­its als Schädlinge des Volksver­mö­gens und der Ökonomie erkan­nten XXL-er ist der, dass sie und wir alle längst wis­sen, dass die Zahl der Schand­baren und unge­bührlich Platz fressenden XXL-er ras­ant ansteigt: Gestern noch Min­der­heit, mor­gen schon Mehrzahl!

Unser Ver­hält­nis zum Dick­sein ist an einem nur ganz ganz kleinen Ort ein gesun­des. Anson­sten sind wir auf dem Trip des mager­süchti­gen Mod­els, das uns mit Silikon und Botox gepimter Äusser­lichkeit dum­m­dreist und luxusverdächtig ent­ge­gen­grinst als wären wir ihr männlich­es Gegen­stück, der bis zur Behin­derung gesix­packt hochtrainierte Bach­e­lor mit süsslich auf Hipp­ster gestell­tem Out­fit und ver­nach­läs­sigt leerem Infit.

Wir ban­gen mit­tler­weile beim Anblick eines XXL-ers unver­hohlen unsol­i­darisch um den Anstieg der Krankenkassen­beiträge und der Steuern und wie find­en dass die Fläche des Sitz­platzes in jeglichem öffentlichen Verkehrsmit­tel, das Spi­tal­bett und auch der Sarg nach Vol­u­men zu bezahlen sei.

Über­haupt darf das Busi­ness wegen der Dick­en nicht lei­den — wenn schon sollte man mit ihnen und ihrem Vol­u­men das Brut­tosozial­pro­dukt gefäl­ligst steigern. Warum eigentlich wer­den die Leichen der Dick­en nicht ein­fach gründlichst lipo­suk­tion­iert, so dass sie anschliessend in einen kostengün­sti­gen schuh­schachtel­grossen Sarg passen, der dann auch noch gle­ich mit der Menge des abge­saugten Kör­per­fettes insofern abge­golten wer­den kön­nte, als man dieses wertvolle Pro­dukt der Schmier­mit­telfab­rika­tion und der Kos­metik­branche zuführen würde. Allen, auch der Umwelt, wäre geholfen und über­haupt liesse sich diese inno­v­a­tive Idee in ein­er Weise wei­t­er­denken, die es ermöglichte den Hunger in der Welt gewis­ser­massen kosten­neu­tral zu bekämpfen. Denn wie uns die hehre Welt des unendlichen Kon­sums immer wieder ver­sichert, gewöh­nt man sich schnell an jeglich­es Pro­dukt, solange wir dabei nicht am Kon­sum gehin­dert wer­den oder unser Port­monee nicht stra­paziert wird, ist alles gut, ist alles Markt! Amen!

Natür­lich wäre auch — wie uns dieses Werk vom Kunst­werk­er nahele­gen kön­nte — darüber nachzu­denken, woher denn diese aus dem Gleis gewor­fe­nen Dick­en und Dün­nen kom­men? Und ob wir tat­säch­lich all das brauchen, was pro­duziert wird? Ob Kon­sum wirk­lich ober­stes Glück und Gebot ist? Ob es nicht lustvoll und gesund sein kön­nte, zu verzicht­en und her­auszufind­en was uns wirk­lich dient? Es braucht gewiss nicht die Rück­kehr in die Prähis­to­rie der Jäger-Samm­ler-Kul­tur — aber ein biss­chen davon, ein Tröpfchen Schweiss und ein wenig Muskelkater, die nicht vom Fiten, son­dern vom JAGEN UND JÄTEN her­rühren, kön­nten uns zu gedanklich ganz neuen Ufern führen — näm­lich zu den alten.

W. Stud­er

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