Wer geht mit wem?
Aus der Serie «Sprachperlen»
(stu) Von zwei Schüssen getroffen konnte sich der Fremde im unwegsamen Gelände des Gebirges vor seinen Verfolgern nur sehr knapp hinter einem der tausend Felsen verstecken — nur um nach wenigen Tagen des Verharrens an seinen Wunden zu sterben. Als er, der wahrscheinlich ein Agent aus dem Süden war, endlich gefunden wurde, war seine Leiche ein trauriger Anblick und die zuständigen Behörden und ihr Wissenschaftsdienst sichteten die Reste seiner Kleidung und die wenigen Utensilien, die er in einer Art Männertasche mit sich führte. Nein, ein Smartphone war nicht dabei, aber der vor rund 7000 Jahren im Brennergebiet kläglich Verblichene, als Ötzi bekannte, hatte eine Schnur mit etlichen in unregelmässigen Abständen eingearbeiteten Knoten bei sich — ein Itinerar also, dem die wesentlichen Wegstrecken der unternommenen Reise abzuleiten und mit dem Winkel und Gestirne anzupeilen waren.
Ein Zeitsprung hinauf ins frühe 17. Jahrhundert. Es treffen sich einige Tagesreisen vor dem fernen Samarkand, dem Knotenpunkt des fernöstlichen Handels, ein kabbalistisch hochgelehrter Jude aus dem Süden Frankreichs, ein frommer christlicher Handelsherr der alten Konfession aus Pommern und ein junger eifriger Sufi aus Bagdad mohammedanischen Bekenntnisses in einem Karawanenserail zur Übernachtung. Alle drei waren klug und deshalb fern ihrer Heimat als Händler und Lebensreisende unterwegs. In Europa nämlich tobte der mörderische Glaubenskrieg zwischen den alten und neuen Christen auf unabsehbare Zeit und in Bagdad stritten sich die Anhänger Mohammeds ebenso brutal und ausdauernd um den richtigen Islam und dessen oberstem Vertreter.
Die drei klugen Männer kamen nach dem Versorgen der Tiere und dem dem Essen ins Theologische Gespräch und, da sie wirklich klug und auch noch wirklich gebildet waren, erkannten sie sich im einen gemeinsamen Gott und sie dankten ihrem gemeinsamen Stammvater Abraham für die Gnade an seiner Gottes-Erkenntnis teilhaftig geworden zu sein. Schliesslich, bevor sie sich schlafen legten, nahm jeder einen eher kleinen Gegenstand von rechteckiger Form zur Hand und begann sich — mit dem Kopf auf die Brust gesenkt — darin zu vertiefen. Nein, es waren dies keine Smartphones. Es waren Itinerarien der geistigen Erbauung, die man VADEMECUM, “geh mit mir” nannte. Der Kabbalist las über die zehn Sephirot des Adam Kadmon, der Christ und ehemalige Klosterschüler las Worte von Augustinus und Thomas von Aquin und der lyrisch bewanderte Sufi las in den sogenannten Agrafas, einer Sammlung der vor allem im Islam beliebten verstreuten Jesu-Worte — was übrigens kaum ein Christ weiss.
Zeitsprung in die Gegenwart: In einer leerstehenden denkmalgeschützten Kirche irgendwo in Zentraleuropa hat man ein kleine Mall eingerichtet und nach oben, die Gewölbekappen raffiniert nutzend, einige Lofts der gehobensten Preisklasse eingebaut. Alle Geschäfte laufen Miusag geschmiert bestens und die Leute sitzen und stehen und gehen und rennen teilweise sogar mit dem Kopf auf die Brust gesenkt durch den ehemaligen Sakralbau, sich kaum um etwas anderes kümmernd als um das schwach bläulich leuchtenden rechteckigen Dings in das sie hineinstarren- verdammt zur Schmerztablette und zur Muskelverkürzung und endlos zu Diensten dem süchtig gewordenen, ewig unbefriedigten, nimmersatten hedonistischen kleingrossen Selbst. Ja, hier handelt es sich um Smartphones, die man ebenfalls als VADEMECUM bezeichnen kann — allerdings ist es das Smartphone, das uns mittlerweile befiehlt: GEH MIT MIR! Das Kommando hat unbedingt das Smartphone, das uns zwingt auf Gedeih und Verderb den ungewissen Weg des grossen Popanzen, der gigantisch aufgeblähten leeren Blase, zu gehen.
Vielleicht bleibt uns nur noch die Hoffnung, dass wenn wir dann, gezogen am Ring durch die Nase bzw. am Kabel des grossen Bruders in unserem dafür eingerichteten Stecker, der Schnittstelle unserer Existenz, den dünstigen Blutgeruch des Schlachthauses nicht mehr erkennen, wir also ohne Denken der Gnade der bewusstlosen Entsorgung teilhaftig werden — beim Überschreiben der Festplatte unserer Existenz.
Ein bedenklich hübsches Werk von Mara, nicht wahr?!
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