Tisana diuretica, BENEDICTUS 7,4 x 6,7 x 12cm (LxBxH); © mara 2021
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Wohlen, im Feb 2021
Lieber Freund
Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft hat viele Familien, Freund- und sogar Partnerschaften aufgebrochen. Und nun hat es auch uns zwei erwischt. Verschiedene Ansichten in wesentlichen Dingen. Du warst mir schmerzlich weit weg, gestern. Abrupte Einsamkeit in der Begegnung hin zu förmlicher Höflichkeit. Muss wirklich auf Abstand gehen, wer sich nicht mehr findet im Gespräch? Wahrscheinlich hast Du intuitiv recht gehabt. Denn da sind diese Blasen — unsere Blasen. Und dann ist da noch dieser Blasentee…
(Lieber als Podcast hören? → hier)
Kognitive Dissonanz und Vertrautheitsblasen
Die Angst vor KOGNITIVER DISSONANZ¹ — gleichermassen mentale Schutzfunktion und ewige Scheuklappe des Homo Sapiens — verwehrt uns echte Meinungs‑, Glaubens- und Forschungsfreiheit (nicht umsonst gehört Doppelblindheit zu den Goldstandards der Naturwissenschaft). Unser Denken und Handeln beruht nicht etwa auf Wissen, sondern bewegt sich innerhalb einer VERTRAUTHEITSBLASE, einer Blase von Vertrauen darauf, dass etwas SO UND NICHT ANDERS ist. Die vertraute Ordnung dieser BLASE strukturiert und triagiert unser “Wissen” und Verhalten in der Welt in akkurate, gutverdauliche Gewissheiten und Haltungen die uns an- und einpassen und bewahrt uns vor ständiger Denkarbeit und sozialer Ächtung in der Peergroup. Fester Boden unter den Füssen, beruhigende Gewohnheiten die nicht weiter erklärt werden müssen, Ordnung und Sicherheit statt quälende Zweifel. Je mehr bereits in die Blase „investiert“ wurde, desto mehr wird man auch weiter „investieren“ — um den Kurs halten zu können. Zweifel werden ausgeschieden — unser Blasentee.
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¹) “Kognitive Dissonanz” ist der wissenschaftliche Begriff dafür, dass wir Widersprüche im Kopf als höchst unangenehm empfinden und unter allen Umständen aufzulösen versuchen. Deshalb wählen wir anstelle der unangenehmen ehrlichen Antwort, dass wir falschlagen, die angenehme Lüge, dass die neue Information zweifelhaft ist. –> Weitere Infos
Die VERTRAUTHEITSBLASE weist uns den Weg, gibt Halt, Orientierung und damit eine Perspektive. Man “weiss” auf welcher Seite man steht und auf welcher besser nicht, wer dazugehört und wer nicht, Freund oder Feind, Links Mitte Rechts, Wahrheit oder Fake. Ohne die Stabilität unserer VERTRAUTHEITSBLASE wären wir Destabilisierte in permanenter Ungewissheit, frei flotierender Angst, am Zweifel Verzweifelnde und letztlich zum Wahnsinn Getriebene. Denn echte Meinungs‑, Glaubens- und Forschungsfreiheit wohnt nun mal im Luftschloss maximaler Unordnung, zumal unser insuläres Wissen niemals hinreichender „Stecken und Stab“ sein kann zur Bewältigung eines unaufschiebbaren Lebens ohne Gebrauchsanleitung. Stattdessen nötigt uns ozeanisches Nichtwissen und Ratlosigkeit — zur VERTRAUTHEITSBLASE. Zum geglaubten Wissen, zum Glauben, zum verzweifelten Dazugehören und zum Ausscheiden von Zweifeln — zum Blasentee. Und — die VERTRAUTHEITSBLASE befähigt uns überhaupt erst, es miteinander auszuhalten. Arm in Arm, Hand in Hand, Seite an Seite, wir und “die Anderen”. Sie ist ein grundlegender Mechanismus zur Lebensbewältigung. Das ist tragisch und das ist wahr.
Überzogen von einer Flut von Informationen haben ja gerade wir “gebildeten” Intellektuellen die Illusion von Informiertheit. Wir fühlen uns über alles Wesentliche unterrichtet um abends “aufgeklärt” und “wissend” ins Bett zu steigen. Dabei verkennen wir, dass wir es uns einfach bequem gemacht haben in der Komfortzone unserer VERTRAUTHEITSBLASE. Aus Angst vor Nebengeräuschen in der trügerischen Ruhe, vor der anderen Meinung, vor der Freiheit, der ewigen Ungewissheit, der permanenten Unruhe. Aus Angst.
Schönwetterfreunde?
Wenn echte Freundschaft meint, laut denken zu dürfen, dann mag uns dies bei übereinstimmenden VERTRAUTHEITSBLASEN vielleicht gegönnt sein. Werden die gemeinsamen Gewissheiten und Haltungen nun aber — z.B. durch Kritik, Opposition oder Widerspruch — einseitig in Frage gestellt, beginnt sich die „Ehe“ der Blasen und die Freundschaft aufzulösen. Die synchrone Diurese (der zweisame Blasentee) versiegt. Man weiss nicht mehr auf welcher Seite man steht und auf welcher besser nicht, wer dazugehört und wer nicht, wer Freund oder Feind, ob Links Mitte Rechts, was Wahrheit ist oder Fake. Die trügerische Ruhe wird gestört, statt Ordnung und Sicherheit herrscht nun Zweifel. Der durchrüttelt, lähmt, stolpern lässt, aus geregelten Bahnen wirft und unablässig Fragen produziert. Beruhigende Gewohnheiten sind es nicht mehr, der feste Boden unter den Füssen wackelt. DAS MACHT ANGST! Dann aber sind Wut, Aggression, Abwertung des Anderen, Gleichgültigkeit bis hin zum absoluten Kontaktabbruch eigentlich “nur” noch naheliegende „Schutzfunktionen“ — einsamer Blasentee bevor die Blase platzt.
ECHTE FREUNDSCHAFT IST NICHTS FÜR ANGSTHASEN
Auf unsere Freundschaft
Mara
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→ Zum Werkkommentar von W. Studer
Werk
Gleichermassen wie die Schlechtwetterfront, die sich aus Sicht der Meteorologie aufgrund der Summe aller zeitlichen, globalen und lokalen (Rahmen-) Bedingungen ergibt, lassen sich gesellschaftliche “Sitten und Gebräuche” und deren Krisen — hier Leben und Freundschaft in Vertrautheisblasen — letztlich als Elemente einer Rahmenhandlung verstehen, die sich aufgrund der Summe globaler, lokaler und persönlicher (Rahmen-) Bedingungen der Sozietät ergibt. Rein sprachlich (nicht aber in der Sache) bliebe demnach sowohl ein mutiges DEN RAHMEN SPRENGEN als auch ein AUS DEM RAHMEN FALLEN zu hinterfragen. Kunstsprech: BUBBLEART
Entweder niemand ist schuld, oder wir sind es alle — Demut und Bildung tut Not.
Klassifikation
<Nr123 BLASENTEE> ist ein Werk aus dem Werkraum Rahmenhandlung
Bekanntgabe
Juli 2021 → Wissen wo man steht — Prolog zum Werk Nr123
Dem unbekannten Freund ein Gruss
Kommentar zum Werk <Nr123 Blasentee>, von Walter Studer
Dem guten alten Medizinalkräutertee, dem für die Blase, ein Monument! Errichtet in einfachster, ja minimalistischer und den Kunstbanausen fast peinlich simpler Machart als Maras Werk NR123. Und warum auch nicht, hält doch die altehrwürdige aber heute oft verschmähte oder pseudoesotherisch fehlinterpretierte Kräutermedizin nach wie vor, was sie verspricht — nicht mehr aber auch nicht weniger. Betrachten und ehren wir also damit dieses einfache Produkt, das auf dem Podest platziert und geeignet illuminiert untereins zum „Denkmal“, zum „Denk-mal“ und zum „Denk-mal-wieder-ein-wenig-nach“ mutiert, uns zum Assoziieren animiert, zum gedanklichen Spaziergang der Seele und den Geist reinigt und so auf einer rein abstrakten Ebene durchaus ein Zusammenhang zur Funktion des Blasentees erbringen kann.
Gut gelungen dieses Oeuvre. Allein schon weil Maras Prolog sich diesmal als eine annähernd brisante und geheime Mischung aus Gedankengängen politischer Natur und Wissenschaft, persönlicher Überzeugung und altem und neu Erlebtem und was nicht noch allem präsentiert. Bei mir hat sich der Eindruck festgesetzt, seine Gedanken kämen zwar wohl moderiert daher, galoppierten aber dennoch in alle Richtungen, auch in jene Bereiche die möglicherweise nicht betreten werden sollten.
Es ist nicht zu verkennen: Es geht um Liebe. Es geht um Freundschaft, um einen Freund , der in einer für den Kunstwerker wichtigen Überzeugung offenbar divergenter Meinung ist und ihm dies in aller Deutlichkeit und getrieben von der Dynamik des Moments und wohl auch der körperlichen Präsenz unseres Kunstwerkers in absoluter Form beibringen musste.
Wohl wahr, wenn Mara einen jener ewig Recht reklamierenden qualitätsvollen Kalendersprüche zitiert indem er in Grossschrift erinnert dass Freundschaft nichts für Angsthasen ist. Wie interpretationsbedürftig solche Wahrheiten sind, weiss er natürlich selbst und auch wenn der Spruch richtig ist, muss man beifügen…UND SIE MUSS DIE FREIHEIT DES FREUNDES SCHÜTZEN. Will sagen Freunde sollten nicht zum anders Denken gedrängelt werden.
In diesem Sinne wird, so hoffe ich, diese Trennung nicht ewig halten.
Alles in Allem ein typisches Werk Maras: Ein humorvolles und bedenkenswertes Kunstwerk dieses N123 und der Prolog trotz intellektueller Form ein Vulkan an Menschlichkeit.
Walter Studer, Juli 2021
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<Weichlinge (Serie)> und <Nr68 Angestachelt> und <Nr75 Geöffnet> und <Nr51 Närrische Öffnung>
Sandrine
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Ach, wie wahr. Sehr gut und kritisch geschrieben. Ja, echte Freundschaft ist wirklich nichts für Angsthasen.
Maximale Unordnung in einem Leben ohne Gebrauchsanleitung, das hat was. Ehrlichkeit währt am längsten.. und ja, grüner Tee klärt den Geist.
Und ja, taktlos denken um richtig zu denken stimmt auch (meistens)!