Nr97 Fortschritt

Nagelschuh, Bal­ly D13163, 31 ½ 5, 1951, Spitz­mon­tage, 35x13x20 cm (LxBxH), © mara 2017
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Inspiration

Während der Zeit des Nation­al­sozial­is­mus ermordete medi­zinis­ches Per­son­al in Dutzen­den soge­nan­nten Heil- und Pflegeanstal­ten mehr als 70’000 geistig und kör­per­lich Behin­derte, die zuvor von Ärztlichen Gutachtern zur geziel­ten Tötung selek­tiert wur­den. Darunter waren auch viele Men­schen mit Down-Syn­drom (Mon­goloidis­mus). Ziel dieser soge­nan­nten Aktion-T4 war es, die Aus­bre­itung “min­der­w­er­ti­gen Erbgutes” zu ver­hin­dern und die Schaf­fung eines “rassere­inen Volkes” zu fördern. Auf­begehren gegen die sys­tem­a­tis­che Tötung ver­meintlich „leben­sun­werten“ Lebens gab es kaum, nen­nenswert­er Wider­stand ging allein von einzel­nen Richtern und Ange­höri­gen der Opfer, vor allem aber von einzel­nen Vertretern der christlichen Kirchen aus. NIE WIEDER — war später die die Losung…

Fortschritt:

Heutzu­tage sind Men­schen mit Down-Syn­drom Sym­pa­thi­eträger. Sie lachen von Plakat­en, sind knudelige TV-Lieblinge in “eusi Badi”, “euse Zoo” und “euse Buure­hof” oder geben etwa die “Miss Météo”. Heuer durfte sog­ar erst­mals in der Geschichte der Gedenkstunde an die Opfer des Nation­al­sozial­is­mus ein Men­sch mit Down-Syn­drom im Deutschen Bun­destag einen Brief vor­lesen. Über­haupt ist die säku­lare Zivilge­sellschaft heute lib­er­al  f o r t g e s c h r i t t e n:

NEUN VON ZEHN Frauen lassen bei Down-Syn­drom eine Abtrei­bung durch medi­zinis­ches Per­son­al vornehmen — so schätzen Experten.

Werk

Gle­icher­massen wie die Schlechtwet­ter­front, die sich aus Sicht der Meteo­ro­logie auf­grund der Summe aller zeit­li­chen, glo­balen und lokalen (Rah­men-) Bedin­gun­gen ergibt, lassen sich gesellschaftliche “Sit­ten und Gebräuche” (hier die gezielte Tötung von Invali­den im Holo­caust und die gezielte Abtrei­bung von Invali­den in der heuti­gen Zeit) let­ztlich als Ele­mente ein­er Rah­men­hand­lung ver­ste­hen, die sich auf­grund der Summe glo­baler, lokaler und per­sön­li­cher (Rah­men-) Bedin­gungen der Sozi­etät ergibt. Rein sprach­lich (nicht aber in der Sache) bliebe dem­nach sowohl ein mutiges DEN RAHMEN SPRENGEN als auch ein AUS DEM RAHMEN FALLEN zu hin­ter­fragen. Kun­st­sprech: ABART

Entwed­er nie­mand ist schuld, oder wir sind es alle — Demut tut Not.

→ Zum Werkkom­men­tar von W. Studer

Klassifikation

<Nr97 Fortschritt> ist ein Werk aus dem Wer­kraum Rahmenhandlung

Bekanntgabe

Aug 2017 → Fortschritt — Pro­log zum Werk Nr97

Zum gleichen Thema

<Die Büchse der Pan­dora>, <Dein Bauch gehört Dir>
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Übermenschen unter sich

Kommentar zum Werk Nr97

von Wal­ter Studer

Nr97 Fortschritt

(stu) Der beschla­gene Mil­itärschuh der Schweiz­er Armee mit Aktiv­di­en­ster­fahrung aus den 40er und 50er Jahren (der gezeigte aus dem Jahre 1951 wurde auch früher schon pro­duziert) meint nicht eigentlich die Schweiz, son­dern er evoziert zunächst die Zeit des 2. Weltkrieges und der deutschen Nation­al­sozial­is­ten mit ihrem wahnsin­ni­gen Rassen­wahn und adäquat dazu ihrem mörderisch­er Anti­semitismus, mit ihrer zum Abschlacht­en motivierten Sturm­staffel SS, der begehrtesten Elitetruppe ihrer Zeit übri­gens und ihrem Kriegsh­er­rn, dem lange Zeit zweit­en Mann im Hitler-Staat, Hein­rich Himm­ler, dieser blutrün­stig inbrün­stige Katho­lik, der in seinen Briefen mehr als ein­mal von seinem from­men Gewis­senskampf bezüglich seines rig­orosen, aber halt zur Rein­hal­tung der Rasse unab­d­ing­bar notwendi­gen Mor­dens berichtet und wie ihm jew­eils gebet­sun­ter­stützt in sein­er Kirche im bayrischen Dorfe von seinem geliebten Hei­land Abso­lu­tion widerfuhr.

Es han­delt sich jedoch im weit­eren um ein grund­sät­zlich­es mar­tialis­ches Sym­bol, das so signal­trächtig auf dem für Mara typ­is­chen Vierkantsock­el nach vor­wärts in die Ver­gan­gen­heit marschierend, als ein ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT insze­niert daherkommt. In jene Zukun­ft der alten nation­al­sozial­is­tis­chen Idee eines rein­ras­si­gen Über­men­schen mit Geniehirn und ange­boren­em Waf­fel­bauch, wie Arno Bräk­er und vorher schon sein Lehrer Gus­tav Rodin in bester kün­st­lerisch­er Aus­for­mung ihn immer wieder dargestellt haben. Rodin der 1917 also noch vor dem staatlichen Nation­al­sozial­is­mus starb, hat sein Vor­bild des Über­men­schen wesentlich in der Antike und der Renais­sance und in der katholis­chen Ide­olo­gie ger­ade des franzö­sis­chen Bürg­er­tums des 19. Jahrhun­derts gefun­den, das in sein­er beson­ders weiss-christlich-nationalen Ide­olo­gie eigen­er Selb­s­ther­rlichkeit unter anderen auch den frühen Nazis zur Aus­for­mulierung ihres spez­i­fis­chen Vor­bildes ein­er ger­man­isch-arisch-weis­sen Über­rasse diente, die als natür­liche Herrscherin über alle anderen Rassen anzuerken­nen sei. Der Über­men­sch schlechthin also, der allerd­ings lange vor den deutschen Nazis in per­vers­er Vol­lkom­men­heit immer wieder ersehnt und als Erfül­lung des Gott gle­ichen Seins behauptet wurde. Dieses Gipfel­er­leb­nis wurde als ein Pro­dukt eines die Natur mit allen Mit­teln über­bi­etender Demi­ur­gen (Schöpfer ausser­halb der Natur bzw. der eigentlichen Schöpfer­kraft) ver­standen, dem allerd­ings schon in der vorchristlichen alto­ri­en­tal­is­chen ägyp­tisch-jüdis­chen (Bar­be­lo, Sophia) Gno­sis und auch in der späteren christlichen Gno­sis herbe Kri­tik ent­ge­gen­schlug, wo es als let­ztlich ver­heerend und als Ema­na­tion des abgrundtief Bösen begrif­f­en wurde. Diese antiken erken­nt­nis- oder wis­sensre­ligiösen Beken­nt­nisse unter­schiedlich­ster Art, die im Chris­ten­tum wiederum in oft grund­sät­zlichem Wider­spruch als oft eso­ter­ische Form weit­er­en­twick­elt wur­den sind sowohl in ihrer Kri­tik der men­schlichen Hybris (Über­mut, Anmas­sung, Selb­stüber­schätzung), als auch ihrer oft gle­ichzeit­i­gen Sehn­sucht nach genau diesem auch ver­ab­scheuten Ide­al insofern auf­schlussre­ich, als sie zeigen, dass dieser Wahn des Men­schen die Natur zu über­bi­eten, sie als ein Vehikel des Demi­ur­gen let­ztlich gegen die Natur selb­st zu benutzen, eine anthro­pol­o­gis­che Kon­stante ist, die als ein schreck­lich­es Agens der men­schlichen Natur imma­nent ist.

Hein­rich Himm­ler übri­gens, hat sich der Fülle gnos­tis­ch­er Eso­terik gerne bedi­ent, um seine Rassen­hy­giene ide­ol­o­gisch und pseudore­ligiös zu unter­mauern, was wiederum beweist, dass jede Erken­nt­nis und jede Aus­sage prinzip­iell das Gegen­bild bed­ingt und auf ewig in sich birgt.

Sich­er ist, dass der Men­sch in seinem wis­senschaftlichen Erken­nen und Tun — etwa dem der Gen­tech­nik — mehr denn je in Gefahr ist zum Demi­ur­gen zu wer­den. Er muss immer wieder von neuem die Entschei­dung suchen, ob das tech­nisch Mögliche sin­nvoll und im Guten gegen die Natur, zum Beispiel zur Heilung von Krankheit, oder aber zer­störerisch gegen die Natur, zum Beispiel zur Ver­nich­tung von Leben in sein­er ganzen Diver­siv­ität ver­wen­det wer­den soll. Die Antwort auf diese Frage wird jedoch — und auch dies ist let­ztlich Natur — nie voll­ständig gegeben wer­den kön­nen. Die Polemik und mit ihr jeglich­er kün­st­lerische Aus­druck wird hier zum Flucht­punkt in der lei­di­gen Sache und sie mün­den schliesslich alles in allem in ein­er einzi­gen Frage: SOLL DER MENSCH SEIN EIGENER ÜBERMENSCH WERDEN? Falls der Men­sch diese Frage meint beja­hen zu kön­nen oder gar beja­hen zu müssen, frage ich mich hin­wiederum, ob es dere­inst den ÜBERMENSCHEN UNTER SICH wohl sein wird.

Aug 2017, W. Stud­er

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