Musiker im Dichtestress
Auf der Seite über den Wachstumswahn habe ich darauf hingewiesen, dass explosives Wachstum unter anderem auch zu vermehrten Verteil- und Verdrängungskämpfen führt. Offensichtlich bleibt, wie man kürzlich lesen konnte, auch die Musikerszene nicht vom Wachstumswahn verschont. Wie das? Immerhin hat es doch Madonna letztes Jahr geschafft, in die Liga der Milliardärinnen [sic!] aufzusteigen. Kämpfe? Doch nicht in der Musikerszene?
Da trifft ihn der Schlag
Welche junge Band träumt nicht davon, im Radio entdeckt zu werden, mit den Fans ins Gespräch zu kommen, von den Labels kontaktiert und für ein Konzert gebucht zu werden. Genau das verspricht das Bandportal SWISS MUSIC PORTAL MX3 den interessierten Bands auf seiner Website. Das hört sich gut an, lässt die Herzen junger Gruppen höher schlagen und beflügelt so manche Hoffnung auf den Aufstieg zum Superstar. Lässt sich der ambitionierte Musiker allerdings die “Bands in alphabetischer Reihenfolge” auf dem Portal anzeigen, muss ihn wohl der Schlag treffen: 19’841 Schweizer Bands sind da bereits registriert! (Stand: Mai 2013).
Das Seufzen des Alt-68er
Bei diesem Massenandrang geht der Überblick ziemlich schnell verloren und so mancher Alt-68er wird sich seufzend an die Zeiten erinnern, in denen die ganz persönliche Identifikation mit seiner Lieblings-Band noch ohne grössere Qual der Wahl möglich war. An Zeiten erinnern, in denen es — emotional streng abgegrenzt — Quartierkeller mit Rolling Stones-Fans und andere mit Beatles-Fans gab, und sonst gar nichts. OK, es gab da auch noch ein paar Abtrünnige, aber trotzdem…
Steinreiche und Arme
Allein in der Schweiz drängen sich also mittlerweile 19’841 Bands um den Publikums-Napf. Da erstaunt es nicht, wenn laufend neue musikalische Märkte erobert werden müssen. Die Ohren rauschen neuerdings sogar auf dem Meer (Rock & Blues Cruise mit mehr als 30 Bands pro Schiff). Wann eigentlich wird Stille etwas kosten? Computer und Internet haben sich in der Musikszene schnell und unerbittlich durchgesetzt, gratis Download ist an der Tagesordnung. Heute lassen sich, mit minimalem Budget für die entsprechende Ausrüstung, in jeder guten Stube Tonschnipsel zu einer Musikdatei zusammenfügen und ins Internet stellen. Im ständig wachsenden (Über-) Angebot stehen allerdings einigen wenigen erfolg- und “steinreichen” Musikern viele “brotlose” gegenüber. The Winner takes it all.
Polo mag nicht mehr
Altrocker Polo Hofer bringt es auf den Punkt: “Man verkauft immer weniger Tonträger, aber umso mehr Musiker und Bands gibt es. […] der Verteilkampf wird grösser.” Und weiter unten: “Ich bin froh, dass ich nicht mehr muss […] ich mag bei diesem Zirkus nicht mehr mitmachen.”
Der Preis
Nun ja, vielleicht ist es nur Altersmüdigkeit bei Polo und das Publikum ja glücklich über die Vielfalt und Lebendigkeit der Musikszene? Vielleicht ist das einfach der freie Markt, der — wie uns die Ökonomen ehrfürchtig versichern — immer recht hat? Die Kehrseite des Wohlstandes? Klar ist jedenfalls: Der Rockzirkus wird auch ohne Polo unaufhörlich weiter wachsen müssen. Das ist der zermürbende Preis für den allgegenwärtigen Wachstumswahn.
Und wenn der Sommer kommt
Sollte also der lang ersehnte Sommer dieses Jahr doch noch kommen, werden sich wieder landauf und landab die (bald schon auf jeder zweiten Kuhwiese angebotenen) Openairs gegenseitig den Publikums-Kuchen streitig machen. Und das Heer von “brotlosen” Bands und die Qual der Wahl ein gutes (schlechtes?) Stück weiter wachsen. Der Markt hat immer recht. _________________________________
Zitate/Quellen
- Stefan Künzli, Ich will mich jetzt zur Ruhe setzen, Schweizer Pop, Polo Hofer (68) über die 5. Rock & Blues Cruise, die Schweizer Musikszene und seine Pläne, erschienen in Aargauer Zeitung v. 29.05.2013.
- Swiss Music Portal MX3: http://www.mx3.ch
Weiterführenede Artikel
- Der Wahn: Seite Wachstumswahn
Marco
Ja, so geht das “besondere Erlebnis” verloren. Das stetig wachsende Überangebot braucht Raum und Platz. Nimm Dir eine Wolldecke, setze dich irgendwo auf eine Wiese, warte .. und Du hast vielleicht in kurzer Zeit den besten Platz am Openair…
Es wird in Zukunft sicher nicht einfacher, sich “zur Ruhe zu setzen”. Deshalb geniesse ich gerade jetzt meinen “persönlichen Raum” welchen ich habe, welch ein Luxus !! …