SW-Druck auf oranger Basis, Galerie-Rahmen mit Passepartout 42x32x3 cm (LxBxH), © mara 2016
Ein guter Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d.h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.
- Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur
Werk
Oh welche Gnade, das unreflektierte Alltagsleben „vor sich hin“. Ohne die Last grundsätzlicher Gedanken (schon gar nicht philosophischer) lebt es sich augenscheinlich leichter. Diese begnadete „Leichtigkeit des Seins“ hat allerdings ihren Preis in ratloser Irritation. Ratlose Irritation ob unseres Wiederholungszwangs in den immer gleichen sozialen Konfliktsituationen oder ratlose Irritation ob der Unmöglichkeit, gegensätzliche Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Dies ist die Folge unreflektierter fundamentaler Gegensätze unserer Bestrebungen. Denn so irritierend und schwer zu akzeptieren es z.B. auch sein mag, dass Freiheit und Kultur nicht in gleichem Masse zu haben sind –
<Nr84 Gegensatz 5> Unreflektierte fundamentale Gegensätze unserer Bestrebungen (hier Freiheit und Kultur) lassen uns scheitern am ratlosen Wiederholungszwang des SOWOHL ALS AUCH. Kunstsprech: FREECULT-ART
Zum Werkkommentar
Klassifikation
<Nr84 Gegensatz 5> ist ein Werk aus dem Werkraum Gegensatz
Bekanntgabe
Juli 2016 → Unkultivierte Freiheit oder unfreie Kultur, Prolog zum Werk Nr84
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Die Schwester der Angst
Kommentar zum Werk Nr84
von Walter Studer
(stu) Das neuste Werk des Künstlers Mara, der sich aus seinem tiefen Verständnis dessen was eigentlich Kultur ist, als Kunstwerker versteht und verstanden und bezeichnet haben will, bringt uns ein grafisches Déjà-vu. Wir haben in Werk Nr80 die ebengleiche elegante und den brisanten Inhalt ästhetizistisch verharmlosende Plakatur schon einmal gesehen. Dort stand die FREIHEIT der SICHERHEIT gegengesetzt und hier bei Nr84 ist derselben FREIHEIT die KULTUR Gegenposten. Wer sich nun denkt, dass sich hiermit eine weitere Werkserie des Kunstwerkers ankündet, hat natürlich recht — wir dürfen gespannt sein auf weitere von ihm ausgewählte elementare Begriffe im Gegenüber des Basisbegriffes FREIHEIT.
Seine gelegentliche Tendenz zum Seriellen hat Mara ja schon z.B. bei seiner Werkserie WEICHLINGE bewiesen und es ist ein für Ihn und seine Kunst typisches Merkmal. Nicht weil er bequemerweise aus Einem Mehrere macht, sondern weil es der empirisch geprägten wissenschaftlichen Wahrnehmung und der rein phänomenologischen Rezeption dieses letztlich eben auch Naturwissenschaftlers und Psychiaters entspricht. Auch er kann nicht ganz aus seiner diesbezüglichen Haut und ist Opfer des HORROR VACUI, der FURCHT VOR DER LEERE, der Angst etwas auslassen zu müssen, nicht vollständig zu sein, noch Fragen offen lassen zu müssen. Als solcher seziert er mit dem geistigen Skalpell die Objekte seiner Kunst, löst die einzelnen Komponenten gleich verschiedenen Organen eines Gesamtorganismus aus dem Gewirr der komplexen Verwucherungen des Alltags und überhaupt des Seins, ob dieses ganz‑, halb‑, unter‑, un- oder sonstwie diffus bewusst ist. Dabei lässt er uns — als sein Publikum in die Sitzreihen des steilwandigen Trichters seines verbotenen und geheimen Hörsaals gezwängt — bei der Wiedererweckung des Leichnams der menschlichen Natur über die gebeugten Schultern schauen. Ein wahrer Doktor Frankenstein könnte man denken und hätte genau damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn diese Geschichte von jenem Wissenschaftler, der die Natur mit ihren eigenen Waffen zu ergründen und herauszufordern suchte, indem er ein aus Leichenteilen zusammengeschustertes Menschwesen, einen monströsen Homunkulus schuf und ihm mittels Blitzenergie den Lebenshauch verlieh, ist eine erstaunlich tiefgründige und in der Geistesgeschichte seit jeher und in zahllosen Varianten zutiefst verankerte Fiktion. Mary Shelly, die geniale Autorin der englischen Spätestromantik, der Zeit der GOTIC NOVELL, hat diesen mit viktorianischer Genauigkeit und epischem Pathos geschriebenen Roman FRANKENSTEIN, den leider längst kaum mehr jemand wirklich gelesen hat, mit dem für belesene Bildungsbürger höchst vielsagenden Untertitel DER NEUE PROMETHEUS ausgestattet und somit auch gleich zum vornherein resümiert. PROMETHEUS ist jener Held der Griechischen Mytologie, der den Göttern das Feuer stiehlt. Seitdem ist der Mensch sterblich und die Not der Arbeit hat Einkehr gehalten. Es ist natürlich die prinzipiell gleiche Geschichte, wie die in der GENESIS des ALTEN TESTAMENTS überlieferte. Dort verführt der anmassende Engel des Intellekts LUZIFER — der Lichtträger (sic!) — Eva und mit ihr Adam zur bewusstseinserhellenden Erkenntnis ihrer Existenz, was ihnen und ihren Nachkommen in der Folge die Not der Arbeit und die ebenso bewusste Sterblichkeit bescherte. Man sieht: Eine sehr sehr sehr alte und wie es scheint endlos geschlaufte und immer wieder von neuem erfundene und auf Ewigkeit erzählte Geschichte. Es ist letztlich jene Metapher für die Metapher für die Metapher. Auch für die Kunst Maras und auch für beispielsweise das vom Kunstwerker seinem fröhlich-sardonischen Prolog von Nr84 als inneres Motto für die ewige Plackerei wiederum seinerselbst in der äusseren Form seines Kunstwerkens vorangestellte Zitat von Sigmund Freud. Denn es ist diese Bewusstheit im Lichte des Intellekt die uns menschlich macht und uns die erst mit der Bewusstheit verbundene Angst vor dem Tod durch alles erdenklich mögliche — wie Freud es nennt — sublimieren lässt. Fast all unser Tun und Denken dient im Eigentlichen und zuerst und zuletzt dem Verdrängen, Übertönen, Schönreden und Schöntun und so weiter und so fort eben dieser Angst vor der Begrenztheit des eigenen Lebens angesichts einer Unendlichkeit von Zeit und Raum. Und alle diese Aktivitäten oder Rahmenhandlungen des Menschen nennt man Kultur. Ob wir nun Krieg führen, Kaffeefiltertüten entwickeln und benutzen, ob wir uns der höheren Mathematik oder der Pornographie widmen, ob wir uns zu höchster Geistigkeit aufschwingen oder Sportnachrichten konsumieren, ob wir Heiraten und andere Verträge schliessen bzw. lösen oder religiöse Lyrik lesen oder wie auch immer: WIR MACHEN UND WIR SIND KULTUR. Kultur schafft uns wie gesagt Linderung unserer Urangst und aller ihrer Derivate. Sie ist es, die uns überhaupt erlaubt zu leben. So gesehen ermöglicht Kultur uns auch eine Art FREIHEIT IN DER KONVENTION ihrer selbst. Das heisst die Kultur schränkt die Freiheit des einzelnen zu Gunsten des anderen und der Gesamtheit natürlich auch ein. Aber wie auch schon festgestellt: Wirkliche Freiheit ist reine Ur-Idee und mithin eine der nicht hoch genug zu schätzenden Kulturleistungen des Menschen. FREIHEIT IST EIN ABSOLUTES POSTULAT AN DIE SCHÖPFUNG, was diese auch immer sein mag! Das Motto von Nr84 scheint also rein provokativ und als Denkanstoss zu fungieren. Ohnehin lässt sich das Motto KULTUR VERSUS FREIHEIT leicht korrumpieren: Wenn dem nämlich so wäre müsste a) Freiheit irgendwo real existieren und b) wenn nicht in der KULTUR und dessen Bewusstsein dann halt im CHAOS und dessen Unbewusstsein. Es gilt aber: FREIHEIT IST EIN KIND DER BEWUSSTHEIT UND SOMIT DIE SCHWESTER DER ANGST!
Womit wir hierin unter Anderen auch wieder bei Sigmund Freud gelandet wären…
Aug 2016, W. Studer
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