Nr82 Multioptionsgesellschaft

288 Zahn­bürsten in Kun­stharz*), 28x28x22cm (LxBxH), © mara 2016
*) bond­ing tech St. Oeschger
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Inspiration

“Dem Ver­lust von Gewis­sheit­en durch stetige Loslö­sung vom Altherge­bracht­en auf der einen Seite ste­hen in der Mul­ti­op­tion­s­ge­sellschaft immer neue Hand­lungs- und Kon­sum­möglichkeit­en auf der anderen Seite gegenüber. Alles wird möglich, der Men­sch braucht nichts mehr weit­er zu tun, als sich zu entschei­den. Die Frage ist nur, wofür?”

Math­ias Bin­swanger in Die Tret­mühlen des Glücks, Ver­lag Herder

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Die west­liche Mod­erne treibt sich in ihrem Wachs­tums­wahn immer weit­er an und sprengt “mul­ti­op­tional” alle Gren­zen – eine end­lose Par­ty mit end­loser Pro­duk­teviel­falt. Da aber nie­mand alles haben oder wer­den kann – wir haben nur einen Magen und ein Leben – sieht sich jede Gesellin/ jed­er Geselle der Kon­sum­ge­sell­schaft erst ein­mal ver­sucht “die besten Optio­nen” für seine/ihre Per­­so­­na­l­i­ty-Show her­aus­finden zu müssen. Blöd nur, dass der daraus resul­tie­rende Rea­li­sie­rungs­druck – von der Sozio­lo­gie­for­schung in reprä­sen­ta­tiven Stu­dien mehr­fach bestä­tigt – den ersehn­ten Anstieg des Glücks gera­dezu ver­hin­dert (Qual der Wahl). Das Gene­rieren von immer neuen Hand­lungs- und Kon­summ­ög­lich­keiten set­zt zudem eine ste­tige Los­lö­sung vom Alt­her­ge­brachten und damit den zuneh­menden Ver­lust von Gewiss­heiten voraus. Alles wird mög­lich, nichts ist wirk­lich. Eine regel­lose Exis­tenz in der Mul­ti­op­tio­na­lität, frei von reli­giösen und kul­tu­rellen Tabus, frei von über­kom­menen Bin­dungen. Du brauchst dich nur zu entscheiden…

Für mein Alter Ego Mara ist die wachs­tums­wahn­hafte Illu­sion – dass unser Leben durch eine ste­tige Zunahme der Pro­duk­teviel­falt und durch das Weg­ra­tio­na­li­sieren von reli­giösen und kul­tu­rellen Tabus immer bess­er werde – aller­dings eine dieser merk­wür­digen Rah­men­hand­lungen, die es gebi­eten, dem Wachs­tums­mo­loch ins Auge zu ­bli­cken, zu maulen und skep­tisch-fro­h­ge­mut nach vorne zu – kunst­werken. Was den son­st? Und wenn sich dann das Ergeb­nis dieses Schaf­fens auch noch gänz­lich opti­onslos – als Unikat ohne Qual der Wahl – prä­sen­tiert, dann passt‘s scho…

Werk

Wach­s­tum, Wach­s­tum und noch mehr Wach­s­tum! Das ist die Losung, die wir von Poli­ti­kern und Wirt­schafts­ex­perten ein­dring­lich und unab­lässig ein­ge­trich­tert bekom­men. Was die Wach­s­­tums-Pre­di­ger aller­dings erfolg­reich ver­drängen, ist die Tat­sache, dass uns diese Stra­tegie früher oder später in den Abgrund treiben wird. <Nr82 Mul­ti­op­tion­s­ge­sellschaft> ist ein weit­eres Schaustück zum Wach­s­tum­swahn. Dies­mal zur Illu­sion, dass unser Leben durch eine stetige Zunahme der Pro­duk­te­vielfalt und durch das Wegra­tional­isieren von religiösen und kul­turellen Tabus und über­kom­menen Bin­dungen immer bess­er werde. Kun­st­sprech: GROWTHMANIA-ART

Zum Werkkom­men­tar

Klassifikation

<Nr82 Mul­ti­op­tion­s­ge­sellschaft> ist ein Werk aus dem Wer­kraum Wachsdum

Bekanntgabe

Juli 2016 → Du brauchst dich nur zu entschei­den, Pro­log zum Werk Nr82
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Liberace und die wahre Anatomie

Kommentar zum Werk Nr82

von Wal­ter Studer

Nr82 Multioptionsgesellschaft

Nr82 Mul­ti­op­tion­s­ge­sellschaft

(stu) Die luzide fröh­liche Bun­theit, die ob ihrer Nähe zur Palette der Fruchteis‑, Bon­bon- und Lutsch­er- bzw. schweiz­erisch Schleck­sten­gel­her­steller den Betra­chter schon fast das Wass­er im Mund zusam­men­laufen lässt, ist auch abge­se­hen vom Datum sein­er Pub­lika­tion als ein Som­mer­w­erk prädes­tiniert. Die mit diesem Werk evozierte süs­se­legis­che Som­mersehn­sucht nach zärtlich­er ewig dauern­der Gegen­wart, nach lauen Nächt­en voller Ver­liebtheit und nach dem Duft von fra­glos­er Frei­heit mit Vogel­gezwitsch­er ist das Eine. Das Andere aber, das Eigentliche dieses aus ein­er let­ztlich unendlich zu ver­ste­hen­den Anzahl von unter­schiedlichen Zahn­bürsten zum Kubus gegosse­nen Objek­tes, ist weniger süss und nur übel ver­daulich. Maras Nr82, dessen nicht einzuse­hende Steh­seite bzw. Unter­seite übri­gens eine sehr inter­es­sante und eigentlich eben­falls sehenswerte Eigen­schaft dieses Som­mer-Werkes bildet, lässt trotz der Pause heis­chen­den Som­mer­lichkeit ganz und gar kein Som­mer­loch zu.

Angemah­nt ist ein­er jen­er Zwänge, aus dem Bou­quet des Markt- und Wach­s­tum­swahnes. Es ist ein Zwang, der sich aus der Logik der soge­nan­nten Frei­heit des Mark­tes ergibt. Die Idee, dass ein jeglich­es Pro­dukt und sei es ein noch so ein­fach­es und pro­fanes Pro­dukt sich in ein­er unsin­ni­gen Fülle von Vari­anten dem Ver­brauch­er anheis­chig machen müsse, um ihm jed­erzeit die beste, die schlech­ter­d­ings indi­vidu­elle und über­haupt die ihm würdig­ste Wahl zu ermöglichen, ist jene Chimäre, der unser Kunst­werk­er am Beispiel der Zahn­bürste hab­haft wird und die er ein­mal mehr kunst­werk­end verd­inglicht und BE-GREIFBAR GEMACHT macht.

Wie unlustig, zer­störerisch ja let­ztlich für uns alle tödlich das vom Wach­s­tum­swahn als Naturge­setz behauptete, im Werk Nr82 exem­plar­isch fest­ge­hal­tene Prinzip eigentlich ist, lässt sich längst mit Bib­lio­theken von Stu­di­en, Sta­tis­tiken und Doku­men­ta­tio­nen bele­gen. Meine Erfahrung ist allerd­ings die der WAHRHEITSFLUCHT und WAHRHEITSVERDRÄNGUNG. Denn selb­stver­ständlich ver­mag nie­mand ohne min­destens Schaden an Lebenslust zu erlei­den sich den Wust an nicht wirk­lich wegzud­isku­tieren­dem und zudem stetig wach­senden Hor­ror zu verge­gen­wär­ti­gen — auch der Kunst­werk­er und ich, der Kom­men­ta­tor ver­mö­gen dies nicht.
Um aber das Notwendi­ge, näm­lich unser aller Prob­lem­be­wuss­theit trotz alle­dem anzus­tossen, zu erhal­ten und wom­öglich in Rich­tung eines besseren Hand­lungskonzeptes zu steigern, kann man sich mein­er Erfahrung mit mir selb­st gemäss niemals auf Ide­olo­gien stützen. Meine oft getätigten SELBSTVERSUCHE haben mich gelehrt, mir den Spiegel möglichst weitab vom Moral­isieren anhand irgend eines geeigneten irrwitzi­gen Beispiels vorzuhal­ten, das mich ten­den­zfrei zum Lachen und zum Nach­denken mein­er Posi­tion und Hand­lun­gen bewegt.

Im vor­liegen­den Fall der MULTIOPTIONSGESELLSCHAFT von Mara gibt es das Beispiel par Excel­lence, gewis­ser­massen das Par­a­dig­ma aller Popanz­erei und das ulti­ma­tive Mon­u­ment der allerd­ings tragis­chen Lächer­lichkeit, die ja — so eben meine Erfahrung aus dem Selb­stver­such — auch unsere ure­igene ist.

Gemeint ist jenes Ital­ien-pol­nis­che Wun­derkind, das in Kind­sta­gen schon die kom­pliziertesten Klavier­stücke müh­e­los und selb­stver­ständlich auswendig, fehler­frei und dann auch noch mit wirk­lich musikalis­ch­er Bedacht­samkeit zum besten gab. Den für Ameri­ka etwas zu zun­gen­brecherische Name liess er fall­en und legte sich statt dessen den grif­fi­gen Kün­stler- und Büh­nen­name LIBERACE zu, der — es ist wirk­lich zum piepen — LIBERÄTSCHI aus­ge­sprochen wird. Dieser Name wurde dem Klaviervir­tu­osen und Allei­n­un­ter­hal­ter, Show­mas­ter und Philosoph des Hedo­nis­mus zum Pro­gram. In den 60er und 70er Jahren trat er in sein­er eige­nen weltweit äusserst erfol­gre­ichen — auch in Europa ein Strassen­feger — und bis heute leg­endären Show auf. Mit jedes­mal neuen aus­laden­den Phan­tasiekostü­men, wal­len­den Pelz­man­tel und christ­baum­mäs­sig mit teuer­stem Geschmei­de behangen liess er sich im auch jedes­mal anderen son­derange­fer­tigten Rolls aus wahlweise Gold, Sil­ber und Platin mit Edel­stein und Perlen geschmückt auf die Bühne chauffieren um für die Dauer sein­er Schau im süsslichst tuntig­sten Ton­fall unaufhör­lich von den Vorzü­gen sein­er Reichtümer zu palav­ern. Dass er dabei auch noch mit dem besten Fin­gerkup­pen-Tropfen-Par­lan­do das eine Kom­po­si­tion von Chopin je wider­fuhr seinen dem jew­eili­gen Design seines Out­fits und seines Rolls angepassten Flügel vir­tu­os bespielte war endgültige Geis­ter­stunde und der Begriff des Genies wurde in ärg­ster Weise stra­paziert. LIBERACE war und ist der Inbe­griff des calvin­is­tis­chen Amerikas, wo die religiöse Überzeu­gung den Reich­tum als Zeichen der Liebe Gottes und deswe­gen als Garant für den Him­mel prädes­tiniert zu sein ver­standen wird. Diese, weil religiös ver­bun­dene und motivierte beson­ders gefährliche Form des Mate­ri­al­is­mus, die eben die schreiend­sten materiellen Ungle­ich­heit­en als gottge­wollt und mithin als gerecht definiert, ist vor allem seit dem 18. Jahrhun­dert Motor jen­er lib­eralen Ökonomie, die den weltweit zum Naturge­setz erhobe­nen Wach­s­tum­szwang trotz aller damit ver­bun­de­nen sozialen Ungerechtigkeit zum absoluten Pri­mat erhoben hat. Eigentlich wis­sen wir alle längst, das diese glob­ale Ket­ten­brief-Pyra­mide am Ende platzen muss. Aber in der Regel hal­ten wir es mit der Philoso­phie und dem Mot­to von LIBERACE, der in jed­er sein­er Shows mehrfach betonte, dass ES GUT SEI, DAS ALLERBESTE EINER SACHE NICHT NUR EINMAL, SONDERN GLEICH MEHRFACH ZU HABEN.
Die Tat­säch­lichkeit des Werkes Nr82 von Mara ver­liert unter dieser Optik betra­chtet jeden Hauch von heit­er­er Skur­ril­ität — es wird erkennbar als die WAHRE ANATOMIE UNSERER SELBST!

Juli 2016, W. Stud­er

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